Angst andere zu enttäuschen

Angst andere zu enttäuschen? (© ViDi / stock.adobe.com)

Angst, jemanden zu enttäuschen?

Haben Menschen mit ausreichend Selbstwertgefühl eigentlich niemals Angst andere zu enttäuschen? Ein selbstbewusster Mensch, der seinen eigenen Bedürfnissen nachgeht, hat meistens keine große Angst davor, andere zu enttäuschen. Er nimmt es in Kauf. Solche Menschen bemühen sich aber, rücksichtsvoll mit den Gefühlen seines Gegenübers umzugehen.

Sie haben gelernt, dass man sich nur weiterentwickeln kann, wenn man seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen folgt. Oftmals kennt man die Erwartungen anderer nicht einmal. Erwartungen werden nämlich nur selten explizit formuliert. Sie werden im Stillen gehegt, aber oft nicht als Forderung formuliert. In den meisten Fällen sind die Erwartungen anderer einem gar nicht bewusst.

Es gibt aber Situationen, die auch bei selbstbewussten Menschen Schuldgefühle auslösen können. Selbst wenn ein selbstbewusster Mensch die Erwartungen anderer kennt, wird er sie gelegentlich enttäuschen. Niemand kann alle Erwartungen erfüllen, wenn er eigenen Bedürfnissen und Lebensplänen folgt. Wenn Eltern erwarten, dass ihr Sohn Medizin studiert, kann es sein, dass dieser lieber Japanologie studieren möchte.

Hätte der Sohn Angst jemanden zu enttäuschen, würde er zähneknirschend ein Medizinstudium beginnen. Ohne diese Angst kann er sich frei von den Erwartungen anderer machen und seinen eigenen Neigungen folgen.

Woher kommt die Angst andere zu enttäuschen?

Die Neigung, es allen recht machen zu wollen, ist ein überraschend starker Impuls. Die meisten Menschen fürchten, bestraft oder weniger gemocht zu werden, wenn sie eigenen Bedürfnissen folgen. Sie möchten keine Schuldgefühle gegenüber Menschen haben, denen sie viel verdanken. Sie möchten sich nicht vorwerfen lassen, illoyal und undankbar zu sein. Schon gar nicht möchte jemand die Zuneigung, Liebe oder Anerkennung anderer verlieren, weil er deren Erwartungen missachtet.

Schuldgefühle und Scham sind Mechanismen, die besonders im Familiengefüge eine Rolle spielen. Eltern haben oft hohe Erwartungen. Ob sie diese explizit äußern oder nicht, ist unterschiedlich. Auch unbewusste, latente und unausgesprochene Erwartungen kann jemand erahnen. Sie entstammen der elterlichen Grundhaltung. Erwachsene Kinder wissen ziemlich genau, was die Eltern stolz macht und wo sie enttäuscht sein würden.

Kinder sind abhängig von ihren Eltern. Sie bekommen die elterliche Enttäuschung folglich stärker zu spüren. Die Angst jemanden zu enttäuschen, hängt also mit unserem sozialen Wesen zusammen. Zwar sind wir heute nicht mehr so stark auf andere angewiesen wie ehemals. Aber ohne andere können wir auch nicht leben. Menschliche Verbundenheit ist lebenswichtig. Man braucht oft Ermutigung, Unterstützung, Solidarität und Trost.

Erwartungen sind besonders in familiären Kontexten und emotionellen oder finanziellen Abhängigkeitsverhältnissen anzutreffen. Es ist jedoch wichtig, eigene Grenzen zu ziehen. Niemand sollte seine eigene Entwicklung an den Erwartungen anderer ausrichten. Jeder muss seinen Lebensweg frei wählen dürfen. Siehe auch: Wie finde ich innere Ruhe?

EXKURS: Wie geht die heutige Jugend mit Erwartungen um?

In den SMS-Kürzeln der Jugendsprache steht „FODO“ für den englischen Begriff „fear of disappointing others“. Viele Kinderleben sind heutzutage angefüllt mit Terminen und Verpflichtungen. Eltern unterstützen ihren Nachwuchs bei der Vorbereitung, einen Platz in der Leistungsgesellschaft einzunehmen. Oft fragen sie das Kind aber gar nicht nach seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen.

Auch zukünftige Chefs haben Erwartungen an ihre Auszubildenden. Diese müssen Fachwissen und Fertigkeiten erwerben, um im Berufsleben bestehen zu können. Beides stößt nicht immer auf Gegenliebe. Viele Unternehmer berichten, dass Jugendliche heute Bedingungen stellen, wenn sie eine Ausbildung beginnen: Sie wollen montags nie arbeiten. Freitags möchten sie im Homeoffice arbeiten, Mittwochs nur bis 12 Uhr im Büro anwesend sein. Sie möchten Jogginghosen im Büro tragen, schnell viel Geld verdienen und gemäß ihrer hohen Ansprüche behandelt werden.

Diese Generation hat offensichtlich keine Angst, jemanden zu enttäuschen. Oder doch? – Vielmehr wird wohl sie es sein, die permanent enttäuscht wird. Der Grund: Die Jugendlichen missachten die Erwartungen, die andere an sie stellen. Die Erwartungen vieler junger Leute sind überdimensioniert. Die Eltern haben ihnen jeden Wunsch erfüllt. Daher leben viele Jugendlichen in dem Glauben, jeder müsse ihren Erwartungen gerecht werden. Sie sind nicht bereit, Abstriche von ihrem Anspruchsdenken zu machen.

Die Angst jemanden zu enttäuschen ist hier nur aufseiten der Unternehmer vorherrschend. Fachkräftemangel und Ausbildungsnotstand zwingen manche Unternehmen, solchen Jugendlichen entgegenzukommen. Sie bieten ihnen kostenlose Fitnesskurse, Homeoffice-Tage, Benzingutscheine oder Monatskarten. Trotzdem kündigen manche Jugendlichen noch vor Arbeitsantritt den Job auf. Es interessiert sie nicht, von ihren Lebensträumen abzurücken. Lieber beginnen sie ein Studium in der Hoffnung, so ihre Lebensziele zu erreichen.

Ohne Investition in Arbeit und Anstrengung wird das aber nicht funktionieren. Möglicherweise werfen diese Kids später ihren Eltern vor, sie nicht gut auf das reale Leben vorbereitet zu haben. Die gestressten Eltern hatten vermutlich jahrelang Angst, ihren Nachwuchs zu enttäuschen. Womit wir wieder beim Thema sind.

Krankhafte Angst andere zu enttäuschen

Wenn jemand sein Leben nach den Erwartungen anderer ausrichtet, kann er nur scheitern. Jeder muss lernen, seinen eigenen Weg im Leben zu finden. Dabei ist es unvermeidlich, andere zu enttäuschen. Oft kannte man die Erwartungen des anderen gar nicht. Doch selbst wenn jemand diese Erwartungen kennen konnte, ist er nicht verpflichtet, sie zu erfüllen. Wenn jemand es nicht schafft, die Enttäuschung seines Gegenübers auszuhalten, wird er manchmal psychisch krank.

Solche Menschen sind vor Angst vor eigenständigen Entscheidungen wie gelähmt. Sie bemühen sich, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. Als Folge sind sie unglücklich und unzufrieden. Sie fühlen sich gezwungen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen. Mancher verachtet oder hasst sich, weil er seine Bedürfnisse nicht durchsetzen kann. Die Psyche solcher Menschen ist konfliktbeladen. Der Spagat zwischen den eigenen Vorstellungen und den Erwartungen anderer misslingt.

Versagensängste und krankhafte Ängste können in einer Therapie aufgearbeitet werden. Wenn Ängste zu körperlichen Symptomen führen, ist die innere Not erkennbar. Die Angst vor Liebesentzug, Strafe oder Ablehnung ist so gravierend, dass die Betroffenen keine eigene Entscheidung mehr wagen. Die Angst jemanden zu enttäuschen, dominiert alles. Die Gedanken befassen sich mit den realen oder fantasierten Erwartungen anderer, nicht aber mit den eigenen Bedürfnissen.

Um aus diesem Teufelskreis herauszufinden (vgl. Teufelskreismodell der Angst, Teufelskreis der Angst durchbrechen), bedarf es der Stärkung des Selbstwertgefühl und des Durchsetzungsvermögens. Vor allem gilt es mit Hilfe der Therapie zu verstehen: Andere Menschen dürfen Erwartungen haben. Man muss sie aber nicht erfüllen. Die daraus resultierende Enttäuschung beruht auf der unrealistischen Erwartung des Gegenübers, dass seine Erwartungen immer erfüllt werden. Die Erwartungen anderer können manchmal erschlagend sein. Die Angst andere zu enttäuschen kann beim Gegenüber krankhafte Züge annehmen. Für eine unangemessene Erwartungshaltung und den damit verursachten Druck auf andere ist jedoch der Verursacher von Enttäuschungen gar nicht verantwortlich.

Vielmehr ist Enttäuschung als das Ende einer Täuschung anzusehen. Dieser hat sich jemand mit überzogenen oder nie geäußerten Erwartungen anheimgestellt. Folglich kann dieser Mensch niemand anderen für seine Enttäuschung verantwortlich machen. Oft setzen die Betroffenen sogar auf die Ängste ihres Gegenübers. Sie appellieren geradezu an die Angst andere zu enttäuschen und fordern so die Umsetzung ihrer eigenen Vorstellungen ein. Das muss als missbräuchliches Verhalten angesehen werden. Solche Menschen machen sich die Ängste anderer bewusst zunutze. Oft kaschieren diese Personen ihre Missbrauchs-Strategien auch noch als Fürsorge und Liebesbeweis.

Die permanente Angst jemanden zu enttäuschen, kann in Einzelfällen das gesamte Leben lähmen. Das ist unverhältnismäßig. Erwartungsdruck und ausweglos erscheinende Ängste machen auf Dauer krank. Doch mit einer kognitiven Verhaltenstherapie kann jeder lernen, zu sich selbst und seinen eigenen Bedürfnissen zu stehen.

Angst andere zu enttäuschen? (© ViDi / stock.adobe.com)
Angst andere zu enttäuschen? (© ViDi / stock.adobe.com)

Quellen und Weiterführendes:

  • https://gedankenwelt.de/die-angst-andere-zu-enttaeuschen/
  • https://www.tollabea.de/angst-andere-zu-enttaeuschen-was-ist-fodo/
  • https://www.focus.de/familie/eltern/familie-heute/selbstbestimmtes-leben-angst-andere-enttaeuschen-warum-sie-das-tun-sollten_id_7854208.html
  • https://www.wissensagentur.net/zeichen-von-reise-andere-zu-enttaeuschen-5067.html
  • https://www.psychotipps.com/angst-vor-ablehnung.html
  • https://www.palverlag.de/angst-zu-versagen-symptome.html
  • https://www.youtube.com/watch?v=YI6J5o0KTqE
  • https://www.youtube.com/watch?v=GXjt2k54rJo