Esketamin: Von der Partydroge zum Antidepressivum?

Esketamin - Droge, Antidepressivum, Wundermittel?! - In der Behandlung von therapieresistenten Depressionen kommt häufig(er) Esketamin Nasenspray (Spravato) zum Einsatz. (© molekuul.be / stock.adobe.com)
Esketamin - Droge, Antidepressivum, Wundermittel?! - In der Behandlung von therapieresistenten Depressionen kommt häufig(er) Esketamin Nasenspray (Spravato) zum Einsatz. (© molekuul.be / stock.adobe.com)

Esketamin als Antidepressivum?

Ketamin und seine Abwandlung Esketamin werden seit langem in der Anästhesie angewendet. Jetzt gewinnen beide Wirkstoffe bei der Behandlung von chronischen und therapieresistenten Depressionen an Bedeutung. Verabreicht werden sie als Infusionen oder als Nasenspray. Wir beleuchten die Wirkung, die Vorteile und den Unterschied zu herkömmlichen Antidepressiva.

Was ist Ketamin?

Die US-amerikanische Pharmafirma Parke-Davis war in den 1960er Jahren auf der Suche nach einem besser verträglichen Ersatz für das Narkosemittel Phencyclidin. Ein Chemiker der Wayne State University in Detroit, Michigan synthetisierte 1962 erstmals die Substanz Ketamin.

Erprobt wurde das Mittel in Human- und Tiermedizin. Schließlich wurde es im Vietnamkrieg bei Kampfverletzungen erfolgreich eingesetzt und in der Folge als routinemäßiges Anästhetikum verwendet.

Schon kurz nach der Entdeckung fanden Forscher im Selbstversuch heraus, dass Ketamin auch psychedelisches Potenzial besitzt. Man klassifizierte das Medikament als dissoziatives Anästhetikum, das beim Patienten einen starken Betäubungszustand auslöst und Schmerzen zuverlässig ausschaltet, ohne dass der Patient vollkommen das Bewusstsein verliert oder einschläft.

Ketamin wirkt, indem es die sogenannten NMDA-Rezeptoren im Gehirn besetzt. Diese Rezeptoren wirken außerdem mit dem Neurotransmitter Glutamat, der zu Überaktivitäten im Gehirn führen kann. Ketamin wird daher auch als antagonistischer Gegenspieler bezeichnet. Glutamat stimuliert und erregt, Ketamin in geringen Dosen beruhigt durch die Besetzung der erregenden Nervenübertragungslinien.

Ob dieser Effekt alleine für die Wirkung von Ketamin bei Depressionen verantwortlich ist oder ob es sich viel mehr um eine Kettenreaktion handelt, ist bisher wissenschaftlich nicht ausreichend geklärt worden.

Esketamin ist eine Abwandlung, die der Pharmakologie und Chemie als (S)-Enantiomer bezeichnet wird. Für Laien bedeutet das schlicht und einfach, dass die Molekularstruktur des Esketamin sich leicht von der Ausgangssubstanz unterscheidet, die Wirkung ist aber ähnlich.

Ketamin wird von der Weltgesundheitsorganisation auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel und Wirkstoffe aufgeführt; siehe auch hier.

Seit einigen Jahren ist Esketamin in den USA und der Europäischen Union zur Notfallbehandlung therapieresistenter Depression zugelassen. Obwohl die Anwendung seitdem zunimmt, wird der Wirkstoff aufgrund eines bestehenden Suchtpotenzials nur nach eingehender Nutzenbewertung und meistens nur in einem eingeschränkten Zeitraum verabreicht.

Esketamin und Ketamin bei Depressionen

Etwa ein Drittel der depressiven Patienten spricht auf alle herkömmlichen Antidepressiva (vgl.: Welche Antidepressiva gibt es?) nur schlecht oder gar nicht an (vgl. auch: innere Leere), sie gelten dann im herkömmlichen Sinn als therapieresistent. Genau diese Patienten können erstaunlicherweise sehr gut, sehr schnell und sehr zuverlässig mit Esketamin und einer Ketamintherapie behandelt werden.

Esketamin ist dazu in der Lage, depressive Symptome zum Teil innerhalb
weniger Stunden zu lindern. Damit ist die Wirkweise des Narkosemittels deutlich potenter und schneller in der Depressionstherapie als alle anderen bekannten und angemessenen Pharmazeutika.

In den Beginnen der Verwendung von Ketamin bei depressiven Patienten zeigten sich in Studien fast unglaubliche und bisher nicht da gewesene Wirkungen. Binnen weniger Stunden nach der Anwendung klangen die Symptome ab und spätestens nach 24 Stunden waren rund 70 Prozent der behandelten Patienten ihre Beschwerden so weit los, dass sie sich besser und leistungsbereiter fühlten.

Bei einigen halten die Effekte sehr lange an, bei anderen klingen sie sehr schnell ab und müssen in der Akuttherapie öfter wiederholt werden. Siehe auch: Bestes Medikament gegen Antriebslosigkeit?

Der Unterschied von Ketamin zu anderen Antidepressiva

In der Praxis finden vor allem diese Wirkstoffgruppen Anwendung als Antidepressiva:

Trizyklische Antidepressiva (TZA)

Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI)

Selektive Noradrenalin-/Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (SNDRI)

Selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI)

Für weitere Details über Antidepressiva und deren Wirkweise siehe unsere Antidepressiva Liste.

Etwas seltener werden auch Beta-Blocker oder MAO-Hemmer bei Depressionen verabreicht. Das aufgrund der starken Nebenwirkungen aber meistens nur dann, wenn andere Mittel nicht mehr wirksam sind oder es nie waren.

Ketamin unterscheidet sich von allen diesen Wirkstoffgruppen vor allem durch die bereits erwähnte schnelle Wirkweise von wenigen Stunden bis einem Tag.

Herkömmliche Antidepressiva bewirken zwar auch schon in den ersten Stunden nach der Einnahme Veränderungen in der Zusammensetzung der Botenstoffe und Übertragungswege im Gehirn, die eigentliche Wirkung setzt für Patienten aber erst nach ein bis drei Wochen ein.

Genau genommen lassen durch die Einnahme der Antidepressiva die Aktivitäten in den Stress- und Angstzentren im Gehirn nach und der Präfrontale Kortex (zuständig für Kreativität sowie ein waches Erleben der Realität) wird langsam aktiviert.

In diesem Zusammenhang wird auch von der Zunahme des BDNF (brain-derived neurotrophic factor) gesprochen, der durch die Gaben von Ketamin viel schneller steigt als durch herkömmliche Antidepressiva.

Zudem ist Ketamin das einzige derzeit bekannte antidepressiv wirkende Mittel, dass sich hervorragend bei Suizidgedanken und Suizidabsichten auswirkt.

Für Menschen in akuten oder anhaltenden und lebensbedrohenden depressiven Phasen können Ketamin beziehungsweise Esketamin daher die einzige pharmazeutische Hilfe darstellen.

Ketamin als Infusion oder Nasenspray

Selbstverständlich unterliegen Ketamin und Esketamin der Verschreibungspflicht und die Anwendung erfolgt nur im Rahmen einer ständigen Begleitung durch den behandelnden Arzt.

Bis vor einiger Zeit wurde Ketamin nur in Form von verträglichen Infusionen (die sogenannten Ketamininfusionen), die langsam in den Körper geleitet werden, verabreicht.

2019 empfahl ein unabhängiger Expertenausschuss der US Food and Drug Administration die Zulassung des (S)-Eutomers Esketamin in Form eines Nasensprays zur Behandlung von behandlungsresistenter Depression. Noch im selben Jahr wurde das Spray unter dem Namen Spravato auch in der EU zugelassen und ist seitdem mit großem Erfolg im Einsatz.

Aufgrund der Bedenken gegenüber Ketamin als Rauschmittel und seiner manchmal extremen Wirkung auf empfindliche Menschen wird das Nasenspray nur unter der direkten Aufsicht von medizinischem Fachpersonal in einer medizinischen Einrichtung verabreicht. Niemals dürfen Patienten das Arzneimittel mitnehmen und zuhause anwenden. Das ist auch in den USA so geregelt.

Ketamintherapie: Esketamin Nasenspray (Spravato) wird bei therapieresistenten Depressionen recht erfolgreich eingesetzt - hier der Leitfaden für Patienten (Screenshot, bfarm.de)
Ketamintherapie: Esketamin Nasenspray (Spravato) wird bei therapieresistenten Depressionen recht erfolgreich eingesetzt – hier der Leitfaden für Patienten (Screenshot, bfarm.de)

Ketaminspray bei Depressionen: Sicherheitsmaßnahmen und Nebenwirkungen

Etwa einer von vier Patienten berichtet nach der Anwendung von Gefühlen der Dissoziation, also des vorübergehenden Getrenntseins von der eigenen Körperwahrnehmung, den Gedanken oder Gefühlen. Das kann kurzzeitig zu motorischen Problemen führen.

Aus diesem Grund sollen Patienten am Tag der Anwendung weder Auto fahren noch Maschinen bedienen. Die Heimreise direkt nach der Applikation von Ketamin Nasenspray erfolgt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß.

Die Nebenwirkungen von Ketamin und mithin einer Ketamintherapie via SPRAVATO Esketamin Nasenspray in der Übersicht:

  • Dissoziation
  • Schwindelgefühl
  • Kopfschmerzen
  • Schläfrigkeit
  • verändertes Geschmacksempfinden
  • Taubheitsgefühle in Mund, Nase und Körper
  • Drehschwindel
  • Übelkeit und Erbrechen
  • vorübergehend erhöhter Blutdruck (vgl. auch: Wie hoch steigt der Blutdruck bei Angst?)

Ketamin bei depressiven Krisen: Hype oder Retter in der Not? – YouTube

youtube.com/watch?v=A6wRcKblte0

Ketamintherapie: Welche Risiken gibt es noch bei einer Ketamin-Behandlung?

So schön diese Verbesserungen und Erfolge in der Therapie von depressiven Episoden, chronischer Depression sowie Depressionen mit Suizidabsicht auch klingen, Ketamin bringt auch Nachteile mit sich.

  1. Wie bei allen anderen Antidepressiva auch, fallen Patienten in der Regel sehr schnell in ihren Zustand zurück, sobald das Medikament abgesetzt wird.
  2. Erfolgt zeitgleich keine psychotherapeutische Behandlung der Depressionen (siehe auch: Wann zum Psychotherapeuten?), droht langfristig eine Abhängigkeit von Ketamin. Immerhin wirkt die Substanz auch über sogenannte Opiat-Rezeptoren.
  3. Da Ketamin auch als psychedelisches Rauschmittel einen Namen hat, liegen die Zusammenhänge zwischen Ketamin und dem Suchtpotential auf der Hand.
  4. Zwar sind die Dosen in der therapeutischen Medizin geringer, dennoch besteht die Gefahr einer Abhängigkeit oder dem Missbrauch des Medikaments als schnellem Problemlöser.

Daher muss im Einzelfall muss vor der Therapie eine gründliche Anamnese (besteht ein Hang zu Suchtmitteln und wie engagiert arbeitet ein Patient an seiner Genesung) und eine Schaden- und Nutzenbewertung durch den betreuenden Mediziner erfolgen. Es sollte nur im Rahmen einer Kurzzeitbehandlung / Notfallmedizin zum Einsatz kommen.

Ketamin als Partydroge

Schon in den 1970er Jahren tauchte Ketamin unter der Bezeichnung „Special K“ in einschlägigen Kreisen auf.

In den 1990er Jahren erlebte Ketamin durch die Techno-Bewegung ein Revival als Partydroge und wurde, wenn auch weit weniger oft, gemeinsam mit Drogen wie Ecstasy (MDMA Methylendioxy-N-methylamphetamin) und LSD (Lysergsäurediethylamid) konsumiert.

Die Wirkung von Ketamin ist dabei eher betäubend und die Tauglichkeit als echte Partydroge mehr als fragwürdig.

Im Rausch nehmen Konsumenten die Umwelt dissoziativ wahr. Wahrnehmung, Bewusstsein, Gedächtnis und Identität verschwimmen. An Stelle der normalen Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung der Umwelt treten rauschhafte Bilder, intensive Wahrnehmungen von Farben oder Wahrnehmungslücken. Unter Umständen kommt es zu mehr oder minder stark ausgeprägte Halluzinationen.

Schlimmstenfalls kommt es zu außerkörperlichen Wahrnehmungen (der Geist wird vom Körper getrennt), zu Wahnvorstellungen und dem völligen Verlust der Identität.

Neben den psychedelischen Effekten treten Hitze und Kälte, Koordinationsschwierigkeiten, Übelkeit und im Anschluss Erinnerungslücken (Filmriss) auf.

Obwohl Ketamin unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, sind der Besitz und der Umgang damit nicht strafbar. Das Narkosemittel Phencyclidin, an dessen Stelle Ketamin „erfunden“ wurde, ist ebenfalls eine Droge und als PCP oder „Angel Dust“ bekannt.

Esketamin Nasenspray: Ist es wirklich ein neues Wundermittel gegen Depressionen?

Abschließend muss Ketamin bzw. die Ketamintherapie mittels Esketamin Nasenspray (Handelsname Spravato) also ein streitbares Wundermittel bei Depressionen bleiben.

Die Vorteile sind verlockend und bieten vielen Betroffenen ernst zu nehmende und wertvolle Hilfe. Bei schweren Depressionen und Suizidgefahr ist eine Therapie sinnvoll und verlässlich.

Allerdings sollte der dauerhafte Gebrauch nur im Ausnahmefall erfolgen. In der Praxis wird dies auch fast immer so gehandhabt. Der Leitfaden zur Anwendung von Ketamin bei Depressionen sieht vor, dass Patienten zuerst zwei bis drei gängige Antidepressiva erfolglos ausprobiert haben müssen, bevor Ärzte zu Ketamin greifen.

Patienten müssen sich begleitend zu einer Ketamin Behandlung auch um ausreichend psychotherapeutische Maßnahmen zur langfristigen Heilung der Depression kümmern (Psychotherapie).

Siehe auch: Risperidon bei Depression,

Quellen