Wann, wie und warum sollte ich Antidepressiva ausschleichen?
Wenn der behandelnde Arzt empfohlen hat, die von ihm verordneten Antidepressiva auszuschleichen, gibt es dafür gute Argumente. Der Arzt begleitet diesen Entzugsprozess mit Außenmaß. Er kennt die damit verbundenen Entzugs- und Absetzerscheinungen und mildert diese durch kontrolliertes Vorgehen beim Herunterdosieren des Wirkstoffes ab. Außerdem klärt er seine Patienten ausreichend über mögliche Absetzsymptome auf.
Wenn Patienten eigenmächtig verordnete Antidepressiva ausschleichen oder absetzen, geschieht dies oft wegen irgendwelcher Bedenken. Sind diese berechtigt, ist das Gespräch mit dem Arzt sicher hilfreicher, als unüberlegte Aktionen in Eigenregie vorzunehmen. Welche Gründe sprechen für ein Ausschleichen verordneter Antidepressiva?
- Nebenwirkungen, die gravierend und schwer zu ertragen sind
- unbotmäßig hohe Medikamentenkosten
- erfolgreiche Gesundung von einer depressiven Episode
- ärztlicher Rat wegen besonderer Umstände
- Therapie-Ende nach gebesserter Angststörung
- eine überraschende Schwangerschaft
- oder der Plan, ein Kind zu bekommen.
In diesen Fällen wird ein Arzt empfehlen, die Antidepressiva auszuschleichen und den Prozess durch ihn überwachen zu lassen. Wenn jemand seine Tabletten stattdessen eigenmächtig (vollständig) absetzt, wird das Therapie-Ende vorweggenommen. Das abrupte Absetzen von Antidepressiva bleibt jedoch nicht ohne Folgen. Was folgt, ist durchaus mit einem Drogenentzug zu vergleichen (vgl.: Antidepressiva absetzen).
Entzugssymptome und Absetzerscheinungen sind die Folge
Je länger der Patient die verordneten Psychopharmaka bereits eingenommen hatte, desto schwerwiegender sind die Entzugssymptome. Die Beschwerden treten nach abruptem Absetzen bei 80 Prozent der damit behandelten Menschen gehäuft und heftig auf. Werden die Antidepressiva ausgeschlichen, können die Absetz-Symptome erheblich abgemildert werden.
Daher wird allgemein empfohlen, Antidepressiva nicht eigenmächtig abzusetzen, sondern unter ärztlicher Aufsicht auszuschleichen. Um Antidepressiva ausschleichen zu können, muss man wissen, wie sie funktionieren. Jedes Psychopharmakon verlangt nach einer anderen Ausschleich-Strategie. Auch der individuelle Stoffwechsel ist zu berücksichtigen.
Der Arzt möchte zudem kontrollieren, in welchem Ausmaß bei seinem Patienten Absetzsymptome eintreten. Er möchte sich außerdem ein Bild über den Genesungsprozess machen. Gegebenenfalls wird er ein weniger belastendes oder wirksameres Medikament verordnen.
Welche Symptome treten beim Ausschleichen auf?
Beim abrupten Absetzen und beim behutsamen Ausschleichen von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) wie Citalopram, Paroxetin und Fluoxetin treten andere Beschwerden auf als beim Absetzen oder Ausschleichen eines Monoaminooxidase-Hemmers (MAO-Hemmer) oder Trizyklische Antidepressiva (TZA) (siehe auch: Opipramol ausschleichen).
Der Unterschied liegt in der Wucht, mit der solche Symptome beim eigenmächtig vorgenommenen Absetzen auftreten. Beim Ausschleichen verlaufen die Entzugserscheinungen deutlich milder. Daher spricht nichts dafür, solche Medikamente in Eigenregie abrupt abzusetzen. Gemeinsam ist allen genannten Medikamenten-Typen eine Häufung verschiedener Symptome, etwa
- Blutdruckschwankungen
- Benommenheit
- grippeähnliche Symptome
- Mobilitätsprobleme, Taumeln
- Wahrnehmungsstörungen
- Stimmungsschwankungen
- Selbstmordgedanken
- Wahnvorstellungen
- Herzrasen oder unregelmäßiger Herzschlag
- Schweißausbrüche
- Beklemmungen
- Konzentrationsmangel
- innere Unruhe
- oder Schlafstörungen.
Es ist nachvollziehbar, dass jemand solche Beschwerden lieber vom Arzt kontrollieren lassen möchte, als sie in geballter Kraft zu erleben. Die Entzugssymptome sind teils schwerwiegend. Sie können labile und psychisch kranke Menschen stark verängstigen. Trotzdem entscheiden sich viele Patienten, nicht die Medikamente langsam ausschleichen zu wollen, sondern den Therapieabbruch vorzuziehen. Ob das klug ist, sei dahingestellt.
Handelt es sich bei Absetzsymptomen um echte Entzugserscheinungen?
In gewisser Weise fühlt sich der Wirkstoffentzug ebenso heftig an. Es handelt sich lediglich um eine Substanz-Gewöhnung, aber keine echte Abhängigkeit. Vielmehr greifen Antidepressiva in den Hirnstoffwechsel oder die Chemie des Körpers ein (vgl. auch: Sertralin Erstverschlimmerung, Sertralin ausschleichen). Daran gewöhnt sich der Organismus mit der Zeit. Wenn die Behandlung beendet werden soll, muss der Organismus sich notgedrungen wieder umgewöhnen. Das kann einen Patienten emotional und körperlich stressen.
Man weiß heutzutage, dass ein Antidepressivum mit kurzer Halbwertszeit stärkere Nebenwirkungen erzeugt. Daher sind solche Antidepressiva oft schwerer auszuschleichen und abzusetzen. Es dauert länger, bis sich die Wirkstoffkonzentration halbiert hat. Antidepressiva wie Venlafaxin und Trazodon haben eine kurze Halbwertszeit, Fluoxetin und Citalopram eine lange. Daher verursachen sie beim Absetzen und Ausschleichen weniger belastende Absetzsymptome. Siehe auch: Opipramol absetzen.
Generell lautet der gut gemeinte Rat: lieber alle Medikamente dieser Art langsam und schrittweise abzusetzen. Als Faustregel gilt, dass jede neue Dosis bei geringen bis mittelschweren Symptomen eine bis drei Wochen beibehalten wird, bevor eine weitere Dosisabsenkung durchgeführt wird. Bei schweren Entzugserscheinungen durch Antidepressiva mit kurzer Halbwertzeit muss eine abgesenkte Dosis womöglich noch länger beibehalten werden.
Alternativ muss die Dosis wieder erhöht werden (vgl. auch: Sertralin absetzen, Mirtazapin ausschleichen und Escitalopram ausschleichen). Im schlimmsten Fall können Absetzsyndrome nach einem abrupten Beenden der Medikamenteneinnahme für den Patienten lebensgefährlich werden.
Ist das schrittweise Absetzen der Weisheit letzter Schluss?
Nein, nicht immer. Wir wollen nicht verhehlen, dass laut einer Übersichtsstudie der „University of Roehampton“ in Zusammenarbeit mit Forschern der „University of East London“ von 2018 auch das Ausschleichen sehr unangenehm sein kann. Immerhin 56 der befragten Patienten schilderten auch nach dem schrittweisen Absetzen eines Antidepressivums erhebliche Entzugssymptome.
Die Symptome wurden größtenteils als schwerwiegend beschrieben. Manche Patienten litten nach dem Herunterfahren solcher Medikamente sogar dauerhaft unter Entzugserscheinungen. Analysiert wurden aber vorwiegend Nachwirkungen von SSRI und SSNRI-Präparaten wie Citalopram, Fluoxetin oder Venlafaxin. Die Forschungslage, auf die die Wissenschaftler zugreifen konnten, war dürftig. Es fanden sich nämlich nur 24 relevante Forschungsarbeiten zum Thema.
Quellenkritisch anzumerken ist, dass sechs der analysierten Studien von Pharmafirmen finanziert worden waren. Andere wurden als zweifelhafte Quellen bewertet und nicht beachtet. Die Forscher bemängelten, dass die Absetzproblematik bei Antidepressiva bisher weder in den USA, noch in Großbritannien ernst genug genommen werde. Auch die deutsche Ärzteschaft sollte sich demnach neue Leitlinien zum Umgang mit Antidepressiva auferlegen.
Um Antidepressiva nebenwirkungsfreier auszuschleichen, sind wesentlich längere Pausen vor einer zweiten Dosisabsenkung notwendig. Auch über Sinn und Unsinn von Langzeitbehandlungen sollte nachgedacht werden. Inwieweit Entzugserscheinungen nach einer Langzeitbehandlungen Suchtcharakter haben, ist ebenfalls ein wichtiges Thema.
Quellen:
- die-gesunde-wahrheit.de/2018/08/24/antidepressiva-sicher-absetzen
- antidepressiva-absetzen.de/5-Stufen_Intro.html
- doccheck.com/de/detail/articles/21846-antidepressiva-absetzen-und-abstuerze
- deutschesgesundheitsportal.de/2022/09/22/langzeitbehandlung-mit-antidepressiva-beenden-wie-gut-klappt-das/