Bedeutung der Diagnose F44.1 laut ICD 10

F44.1 Diagnose | Dissoziative Fugue (© von Lieres / stock.adobe.com)
F44.1 Diagnose | Dissoziative Fugue (© von Lieres / stock.adobe.com)

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Was bedeutet der Diagnose-Code F 44.1?

Damit Diagnosen international vergleichbar sind, wurde die ICD-10 aufgestellt, die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). In dieser Auflistung steht die Gruppe F für psychische Leiden, wobei F 44 für Angststörungen steht. F 44.1 schließlich beschreibt die spezielle Erkrankung “Dissoziative Fugue”.

Gekennzeichnet ist die Störung durch plötzliches Weggehen aus der gewohnten Umgebung. Während dieser Entfernung vom normalen Umfeld besteht eine weitgehende Amnesie für die persönliche Identität und Vergangenheit, wobei allerdings die Fähigkeit zur grundlegenden Selbstversorgung bestehen bleibt. Von außen betrachtet wirken die Betroffenen während der Reise organisiert und klar.

Was bedeutet Dissoziation und was Fugue?

Dissoziationen sind Phänomene, die von einer psychischen Abspaltungsleistung gekennzeichnet sind. Dabei blendet das System des Betroffenen Bereiche ab, die normalerweise in seinem Ich integriert sind. Davon betroffen können zum Beispiel die Wahrnehmung (akustisch, olfaktorisch, visuell etc.), das Bewusstsein, die Identität, Bewegungssteuerung und sogar die Erinnerung sein. Zum alltäglichen Leben gehört ein gewisser Grad an Dissoziationsfähigkeit, zum Beispiel, wenn in stressigen Situationen störende Eindrücke ausgeblendet werden müssen, um optimale Fokussierung zu erreichen. Krankheitswertig wird Dissoziation immer dann, wenn die Abspaltung nicht wiedererlangbar bzw. nicht steuerbar ist.

Fugue stammt vom lateinischen fuga (Flucht) ab und beschreibt im Kontext der Erkrankung die “Flucht” aus dem gewohnten Alltag des Betroffenen. Diese ist vom Patienten selbst nicht steuerbar und unterliegt zum Teil amnestischer Überlagerung. In seltenen Fällen wird eine völlig neue Identität gewählt, bei welcher der Patient sich eine neue Lebensrealität inklusive neuer Wohnung, Arbeit bis hin zu einem anderen Namen annimmt.

Prävalenz der dissoziativen Fugue gem. F44.1

Das Phänomen der dissoziativen Fugue tritt verhältnismäßig selten auf. Die Lebenszeitprävalenz in der Bevölkerung wird auf etwa 0,2% geschätzt, die Störung ist aber in Zusammenhang mit traumatischen Umwelteinflüssen wie zum Beispiel Krieg oder Naturkatastrophen deutlich gehäuft zu beobachten.

Welche Kriterien müssen für eine Diagnose erfüllt sein?

Die Störung ist nahe verwandt mit der dissoziativen Amnesie F 44.0. Abgrenzend zu physiologischen Amnesien ist die Fugue ein komplexer psychologischer Prozess. Es besteht keine hirnorganische oder -traumatische Ursache, daneben müssen auch drogen- oder alkoholinduzierte Amnesien durch Labordiagnostik ausgeschlossen werden.

Ärzte sind in diesem Fall mit Patienten konfrontiert, die zum Beispiel über ihre eigene Identität verwirrt sind oder in Konfrontationen geraten, die ihre neue Identität in Zweifel ziehen. Hierbei fällt meist auch die Amnesie in Bezug auf die Lebensgeschichte des Betroffenen auf. Oftmals gelingt eine Diagnose auch erst, wenn Erkrankte zu ihrer ursprünglichen Identität revertieren oder von Angehörigen entdeckt werden, die die originale Lebensgeschichte aufklären können. Im Nachhinein muss dann rekonstruiert werden, aus welcher Umgebung der Patient floh, welchen Weg er wählte und wie die neue Identität aufgebaut wurde.

Laut DSM-V (Diagnostische und Statistische Anleitung der mentalen Störungen, engl. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Ausgabe 5) müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

  1. plötzliche unerwartete Reise/ Bewegung aus der Arbeits- oder Wohnumgebung verbunden mit der Unfähigkeit, sich an die eigene Vergangenheit zu erinnern
  2. Verwirrung betreffs der eigenen Identität bzw. Annahme einer neuen Identität
  3. deutlicher Leidensdruck oder Beeinträchtigung

Zu den Differentialdiagnosen gehören Dissoziative Identitätsstörungen (früher: multiple Persönlichkeitsstörung), epileptische Fugue, organische Ursachen (Schädel-Hirn-Traumata, Kopfverletzungen, Tumore, Entzündungen und Abszesse der Gehirns etc.) aber auch persönlichkeitsverändernde psychiatrische Erkrankungen wie Manie, Schizophrenie, Demenz, Chorea Huntington oder Creutzfeld-Jakob (nicht jedoch so etwas wie die „ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung„). Es wurden auch Fälle von Simulation beschrieben, bei welchen die dissoziative Fugue und insbesondere die damit verbundene Amnesie als Vorwand genutzt wurde, um schwierigen Lebenssituationen und zum Beispiel juristische Konsequenzen von Fehlverhalten zu entgehen.

F44.1 Ursachen: Wie entsteht eine dissoziative Fugue?

Gemeinhin wird eine Fugue als Resultat einer traumatischen Konfrontation angesehen. Die als ausweglos empfundene Situation übt intensiven Stress aus. Diese andauernde psychische Belastung führt zu einer Fluchtreaktion, bei der die Situation oder Umgebung verlassen und die Erinnerung an den Auslöser amnestisch unterdrückt wird. Man kann die Fugue also als Schutzreaktion vor überwältigender innerer Spannung verstehen. Während der Reise wird von den Betroffenen oft intensive Angst oder Heimweh erlebt.

Vulnerabilitätsfaktoren sind unter anderem Imaginationsfähigkeit, Suggestibilität und die Neigung zu Tagträumen. Dissoziative Störungen unterliegen einer erblichen Komponente, die die Fähigkeit des Gehirns, funktionale Bereiche abzuspalten, erhöhen. Die neurologische Komponente der Störung besteht in einer herabgesetzten Aktivität von Amygdala und präfrontalem Cortex. Dennoch resultieren daraus keine physiologischen Behandlungskonzepte: Dissoziation ist eine vor allem psychologische Leistung des Gehirns.

Therapie der dissoziativen Fugue

Es existieren keine Medikamente, welche die Erkrankung ursächlich behandeln können. Pharmakologische Unterstützung kann höchstens in der symptomatischen Behandlung auftretender Begleitstörungen angewendet werden. Durch den der Amnesie zugrundeliegenden Leidensdruck kann es zu Depressionen oder Panikattacken kommen, welche die psychotherapeutische Behandlung erschweren können. Wird die Erinnerung wiedererlangt, sind die Betroffenen oftmals geschockt und leiden an Flashbacks oder dem intensiven Stress, welcher die Fugue auslöste.

Psychotherapeutisch steht die Beseitigung der Amnesie und die Versorgung der traumatischen Auslösesituation im Vordergrund. Dazu bieten sich ähnliche Methoden wie bei der Behandlung anderer dissoziativer Amnesien an: EMDR zur Desensibilisierung und Aufarbeitung traumatischer Inhalte, Hypnose und Erinnerungstraining zur Wiedererlangung abgespaltener Erinnerungen sowie Gesprächstherapie zur Reaktivierung und Festigung der ursprünglichen Identität des Betroffenen.

Prognose nach einer F44.1 Diagnose

Üblicherweise tritt bei einem Menschen nur eine einzelne Fugue-Episode auf. Diese revertiert für gewöhnlich innerhalb von Tagen bis Monaten. Es sind aber auch länger anhaltende und therapieresistente Fälle von F44.1 bekannt.

Bekannte Fälle von dissoziativer Fugue

Unter den Betroffenen war auch die Schriftstellerin Agatha Christie, die im Alter von 46 Jahren plötzlich aus ihrem Zuhause verschwand. Vorangegangen war dem der Tod ihrer Mutter sowie eine Affäre ihres Ehemannes mit einer gewissen “Nancy Neele”. Christie wurde kurze Zeit später in einem Heilbad in Yorkshire aufgefunden, wo sie unter dem Namen “Teresa Neele “ logierte. Auch später sprach sie nie über diesen Vorfall und erwähnte ihn auch nicht in ihrer Biografie, obwohl er damals nationale Schlagzeilen verursachte.

Doug Bruce wurde Gegenstand des Dokumentarfilms “Unknown White Male” (Rupert Murray, 2005). Der Patient kam 2003 in einem U-Bahn-Wagen in Coney Island zu sich und erinnerte sich an keine Details seines früheren Lebens. Das einzige Dokument, welches er bei sich trug, war die Telefonnummer einer Frau, mit deren Tochter er sich vor der Amnesie in einem Rechtsstreit befand. Diese identifizierte ihn schließlich als “Doug Bruce”, einen ehemaligen Banker und Photographie-Studenten. Bislang hat er seine Erinnerungen nicht wiedererlangt. Es konnten keine organischen Ursachen festgestellt werden. Die Amnesie des Patienten wurde von vielen Seiten in Zweifel gezogen und offenbart die Schwierigkeit bei der F44.1 Diagnose, im Fall von dissoziativer Fugue Simulation von echten Symptomen zu unterscheiden.

F44.1 Diagnose | Dissoziative Fugue (© von Lieres / stock.adobe.com)
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Quellen und weiterführende Materialien:

  • American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.). Washington, DC
  • Gerd Huber: Psychiatrie. Lehrbuch für Studium und Weiterbildung. 7., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Schattauer, Stuttgart u. a. 2005
  • https://psychcentral.com/disorders/dissociative-fugue-symptoms/
  • https://flexikon.doccheck.com/de/Dissoziative_Fugue
  • https://en.wikipedia.org/wiki/Fugue_state
  • https://www.smh.com.au/world/the-man-who-doesnt-exist-20100714-10b7h.html
  • https://www.psychologytoday.com/us/blog/hide-and-seek/201203/dissociative-fugue-the-mystery-agatha-christie