Angst mit Menschen zu reden: Was ist normal, was fällt in den Bereich von Sozialphobien?

Angst mit Menschen zu reden - Was ist normale Schüchternheit, was schon soziale Angststörung?! (© Natalia / stock.adobe.com)

Soziale Ängste: Angst mit Menschen zu reden

„Ich habe jahrelang tatsächlich, bevor ich irgendwo raus bin, geguckt, ob jemand da ist. Und wenn jemand da war, bin ich einfach nicht raus“, sagt Melanie Becker, die länger als 18 Jahre unter einer Soziophobie (Sozialphobie) litt. Wenn es dennoch mal zu einer Begegnung kam, zeigten sich bei ihr folgende Symptome: „Dann haben direkt schon die Lippen angefangen zu zittern, meine Beine. Ich wurde ganz wackelig. Ich habe angefangen zu schwitzen. Mein Herz hat gerast wie verrückt.“ (youtube.com/watch?v=e5VnQOApVfE)

Angst davor, mit anderen Menschen reden zu müssen, haben sicherlich schon viele in den unterschiedlichsten Situationen gehabt. So kann etwa das bevorstehende Gespräch mit dem Chef oder der Chefin Beklemmungen hervorrufen (vgl. Angst vor Chefin). Manch einer möchte sich am liebsten vor einem Telefonat drücken, weil er sich sorgt, sich zu verhaspeln. Oder es ist ihm unangenehm, mit einer Person zu sprechen, die er nicht kennt und nicht sieht. Der Gedanke daran, am nächsten Tag einen Auftritt vor einer größeren Öffentlichkeit zu haben, lässt den einen oder anderen nachts keinen Schlaf finden.

Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen Menschen sozialen Kontakten aus dem Weg gehen möchten (siehe auch Angst unter Menschen zu gehen). In den meisten Fällen ist dies eine normale Reaktion auf besondere Umstände im kommunikativen Miteinander. Doch bei einigen ist die Angst vor der verbalen Konfrontation mit einem Gegenüber so stark ausgeprägt, dass sie gravierende Auswirkungen auf das eigene private und berufliche Leben haben kann (vgl.: Soziale Phobie – beziehungsunfähig?!).

Der folgende Artikel stellt das Krankheitsbild sozialer Phobien im Bereich der Kommunikation vor und klärt über Ursachen sowie Behandlungsmöglichkeiten auf.

Die verschiedenen Gesichter der Angst mit Menschen zu reden

Nicht alle, die den verbalen Austausch mit anderen in extremer Form scheuen, haben dieselben Empfindungen und Beweggründe. Manchmal liegt eine Sprechängstlichkeit vor, der ein konkretes Problem zugrunde liegt. Möglicherweise schämt sich jemand, weil er stottert oder einer fremden Sprache in einem neuen Heimatland nicht mächtig ist. Vielen Introvertierten geht es so, dass sie schüchtern sind, weshalb es sie Überwindung kostet, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.

Daneben gibt es aber auch solche, deren Angst vor dem Reden übergroß ist und in keinem realistischen Verhältnis zur kommunikativen Situation steht. Oftmals entwickeln Menschen mit einer solchen sozialen Phobie Vermeidungs- und Fluchtstrategien, um sich nicht dem für sie furchteinflößenden Moment aussetzen zu müssen. Dieses Verhalten kann auf Dauer das Leben massiv beeinträchtigen und am Ende in die gesellschaftliche Isolation führen, wenn zum Beispiel der Betroffene aus Angst vor seinen Kollegen immer häufiger am Arbeitsplatz fehlt und schließlich die Kündigung erhält. Im Unterschied etwa zur Schüchternheit ist eine derartige soziale Phobie in der medizinischen Psychologie als Krankheit anerkannt. Siehe abgrenzend auch: Ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung (ÄVPS).

ICD-Definition: Soziale Phobie

Die Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) befasst sich in Kapitel F40 mit phobischen Störungen, bei denen im Allgemeinen „Angst ausschließlich oder überwiegend durch eindeutig definierte, eigentlich ungefährliche Situationen hervorgerufen wird.“ (icd-code.de/icd/code/F40.-.html) Typischerweise würden Betroffene versuchen, solche Momente zu vermeiden, oder sie nur mit Furcht ertragen. Meist löse allein die Vorstellung, es könne sich eine für sie krisenhafte Konstellation ergeben, Erwartungsängste aus.

Kapitel F40.1 widmet sich den sozialen Phobien. Im Vordergrund steht hierbei die „Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen, die zur Vermeidung sozialer Situationen führt“. Laut ICD-10 ist diese phobische Störung oftmals mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und der Angst vor Kritik verbunden. Anzeichen der psychischen Erkrankung können in Stressmomenten beispielsweise Erröten, Zittern der Hände, Übelkeit oder der Drang nach Wasserlassen sein. Auch ist eine Steigerung der Symptome bis hin zu Panikattacken möglich.

Wie äußert sich die Angst mit Menschen zu reden?

Psychische Merkmale der Angst mit Menschen zu reden

Menschen mit einer sozialen Phobie wollen alles vermeiden, um im Mittelpunkt zu stehen. In der Öffentlichkeit beschäftigt sie ständig die Frage, wie sie auf andere wirken, sowie die Sorge, sich zu blamieren oder generell negativ aufzufallen. Bei allem, was sie tun, fühlen sie sich kritisch beobachtet, zum Beispiel beim Essen im Restaurant. Der Psychotherapeut Reinhard Pichler meint, das Gefühl der Betroffenen könne sogar ein Stück weit in Richtung „Paranoia, Verfolgungswahn“ gehen. (youtube.com/watch?v=fhlLgKJWHIk&ab_channel=Dr.ReinhardPichler-Coaching)

Bis zu vier von zehn Personen sind von der sogenannten Logophobie betroffen. Bei dieser psychischen Störung leiden Betroffene unter extremen Hemmungen, vor Publikum reden zu müssen. Dabei gehen deren Ängste weit über ein normales Lampenfieber hinaus.

Physische Merkmale der Angst mit Menschen zu reden

In einem Psychotherapiepraxis-Forum beschreibt „ThursdaysChild“ seine körperlichen Symptome beim Sprechen vor einer größeren oder kleineren Gruppe von Menschen; ähnlich in Panik gerät er, wenn er an Diskussionsrunden teilnehmen soll:

„Mein Herz fängt dann an schneller zu schlagen, als nach einem 100m-Sprint. Meine Atmung wird total schräg: Ich habe das Gefühl, wesentlich mehr Luft ein- als auszuatmen, bis meine Lunge kurz vorm Bersten ist und ich niemals wieder diese ganzen Luftmassen unauffällig ausatmen kann… Gefühlt jeder einzelne Muskel meines Körpers spannt sich an. Meine Hände werden eiskalt und schwitzig und ich friere generell. Manchmal fange ich auch an zu Zittern… Vorträge im Stehen sind die Hölle, weil ich jedesmal nur innerlich bete, dass meine Knie nicht schlottern (was auch schon vorkam).“ (psychotherapiepraxis.at/pt-forum/viewtopic.php?t=33788)

In manchen Fällen kann die krankhafte Furcht vorm Sprechen auch zu einer regelrechten Angstattacke führen. Die Sorge, erneut so einen Panikanfall zu erleiden, kann die Tendenz der Betroffenen, sich belastenden Situationen entziehen zu wollen, noch verstärken.

Ursachen psychisch bedingter Sprechangst

Mehrere Faktoren können zu einer Soziophobie führen. Eine wichtige Rolle spielen die frühkindlichen Erfahrungen. Sind die Eltern beispielsweise äußerst dominant, kritisch und erfolgsorientiert, löst dies bei ihrem Nachwuchs oft Ängstlichkeit aus. Das Gefühl der Einschüchterung verstärken dann Gleichaltrige etwa in der Schule, die den Schwächsten in der Gruppe gerne zum Opfer machen und mobben. Teilweise kann die Angst vor verbaler Kommunikation auch genetisch bedingt sein, sodass das Kind eines sozial-phobischen Elternteils ein erhöhtes Risiko hat, an dieser Störung zu erkranken.

Überbehütete Kinder laufen ebenfalls Gefahr, ein krankhaftes Verhältnis zu ihrer Außenwelt zu entwickeln. Aufgrund von „Helikopter“-Eltern haben sie es nicht gelernt, ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen und eigene Entscheidungen zu treffen. Oft fällt ihnen das Sprechen mit anderen noch im Erwachsenenalter schwer, da ihnen Vater oder Mutter diese Interaktion stets abgenommen haben, als sie noch klein waren.

Angst mit Menschen zu reden - Was ist normale Schüchternheit, was schon soziale Angststörung?! (© Natalia / stock.adobe.com)
Angst mit Menschen zu reden – Was ist normale Schüchternheit, was schon soziale Angststörung?! (© Natalia / stock.adobe.com)

Behandlungsmöglichkeiten sozialer Phobien

Es gibt mehrere Möglichkeiten, soziale Angststörungen in den Griff zu bekommen. Experten raten, bei überdimensionaler Angst und zu hohen Einschränkungen des privaten und beruflichen Lebens professionelle Hilfe aufzusuchen. Bei der Überwindung der psychischen Probleme hat sich in den meisten Fällen eine kognitive Verhaltenstherapie bewährt (Form/Verfahren der Psychotherapie, siehe auch Verhaltenstherapie allgemein). Ziel hierbei ist es, unrealistische Denkmuster zu durchbrechen und durch weniger schädliche Gedanken zu ersetzen.

Zu Beginn der Therapie kann es sein, dass Patienten Medikamente wie Beruhigungsmittel verschrieben bekommen, um die innere Anspannung zu lösen (siehe auch: Medikamente gegen innere Unruhe und Angst). Dass muss aber ein Arzt/Psychiater machen, denn nicht-ärztliche Psychologen/Psychotherapeuten dürfen keine Medikamente verschreiben; siehe Unterschied Psychologe Psychiater.

Auch erlernen Betroffene Entspannungs- und Atmungstechniken, um Stresssituationen besser gewachsen zu sein. Schritt für Schritt geht es um eine Annäherung an das angstbesetzte Problem, erst in Gedanken, dann in Form der Konfrontation in der Realität. Nach Auskunft der AOK verbessert eine psychotherapeutische Behandlung die Symptome bei bis zu zwei Dritteln der behandelten Patienten. (aok-bv.de/presse/medienservice/ratgeber/index_22681.html)

Ist die kognitive Verhaltenstherapie nicht erfolgreich, bietet sich eine psychodynamische Psychotherapie wie die übertragungsfokussierte Psychotherapie an. Hierbei geht es darum, tief verankerte Beziehungskonflikte ausfindig zu machen, die die soziale Angststörung mit beeinflussen oder ausgelöst haben.

Ein anderer Ansatz ist die Hypnose. Hierauf sprechen besonders gut Angst-Patienten an, die sich mit ihrer ausgeprägten Vorstellungskraft gut in Situationen hineinversetzen können, die für sie furchteinflößend sind.

Ist die Redeangst noch nicht so stark ausgeprägt und lebensbeeinträchtigend, kann auch der Austausch mit anderen, die unter derselben Erkrankung leiden, hilfreich sein. Eine Möglichkeit ist die Kontaktaufnahme im Netz, etwa über ein Forum wie psychic.de/forum/soziale-angst-erroeten-redeangst-zittern-f1/, oder der Besuch einer Selbsthilfegruppe vor Ort (vssp.de/selbsthilfegruppen-verzeichnis-bund).

Generell ist empfehlenswert, sich als Betroffener so viele Informationen wie möglich über die eigene psychische Erkrankung einzuholen, um sie besser verstehen und dadurch leichter überwinden zu können. Im Internet finden sich zahlreiche seriöse Seiten, die sich mit dem Thema soziale Angst befassen, zum Beispiel auf der Seite psychenet.de/de/psychische-gesundheit/informationen/soziale-phobie.html. Hierzu siehe auch:

Fazit: Raus aus der Angst mit Menschen zu reden

Die gute Nachricht lautet: Soziale Angststörungen sind gut behandelbar und lassen sich überwinden. Jedoch ist es wichtig, dass Betroffene bei ihrem Genesungsprozess aktiv mitwirken und tatsächlich aus ihrer Spirale der Angst herauskommen wollen (vgl. auch: Ich will keine Angst mehr haben). Dazu gehört auch etwas Geduld, denn die Phobie hat sich meist über einen langen Zeitraum aufgebaut, sodass man sie nicht von heute auf morgen los ist. Doch der manchmal vielleicht etwas mühsame Weg lohnt sich, um nicht mehr länger der Gefangene irrationaler Ängste zu sein.

Letztendlich geht es darum, das eigene Ich so, wie es ist, zu akzeptieren und den Urteilen anderer über einen selbst mit Gelassenheit zu begegnen. „Sobald du dir vertraust, sobald weißt du zu leben“, sagte schon Goethe.